Montag, 21. Februar 2011

Umschichtungen

Die Große Verwirrung kommt ja in erster Linie dadurch zustande, daß man sich mit dem Getrennt- und Zusammenschreiben nicht mehr zurechtfindet und wo immer sich eine Chance bietet ein Deppenleerzeichen (http://www.deppenleerzeichen.de/) einfügt. Aber auch der Rückgang der semantischen Sprachkompetenz (siehe Sprachkompetenz im Umfeld) trägt nicht wenig zu ihr bei. Die Kenntnis der Bedeutung von Wörtern schwindet, mit denen man bisher recht treffsicher umzugehen verstand.
Vor ein besonders gewichtiges Problem stellen uns die Schichten, und zwar die sozialen. Einst war da alles klar. Oben war der Adel, in der Mitte die Bürger einschließlich der „Bürgerlichen“, also die Angestellten, die Freiberufler sowie die Beamten außer den ganz kleinen wie Briefträgern und Wachtmeistern. Und die Unterschicht bestand aus den Arbeitern und Bauern sowie an ihrem Rand dem fahrenden Volk und dem übrigen Lumpenproletariat. Mindestens zwei Drittel der Menschen gehörten zur Unterschicht. Später, im Zuge des vor allem in den 70ern in den Druckwerken, wenn auch nicht in der Wirklichkeit allgegenwärtigen Klassenkampfs, wurden die Fronten bereinigt und begradigt. Ihr da oben, wir da unten (Wallraff). Von denen da oben kannte man niemanden, es hieß, sie leben in Villen im Tessin oder in Starnberg, aber leibhaftig begegnet ist noch kaum einem einer. Darum gab es nie ein Problem mit der Zuordnung: Alle, die man im wirklichen Leben traf, waren unten. Man hörte allerdings, daß es in England differenzierter zugeht. Dort weiß, sagte man, jeder, ob er der lower middle class, der upper middle class oder der lower upper class zugehört. Bei uns wurde die klare Zweiteilung nur dadurch ein wenig irritiert, daß es einen Mittelstand gab. Das waren kleinere Selbständige und die waren schon am behäbigen, bodenständigen Habitus leicht als Sonderfall zu erkennen.
Aber vor ein paar Jahren ist das Chaos hereingebrochen. Ein bekanntes Münchener Institut (Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung, DIW) hat kürzlich eine Studie herausgebracht, deren Ziel der Nachweis ist, daß die Mittelschicht – die hat sich inzwischen auch bei uns etabliert – schrumpft. Das ließ sich dadurch leicht machen, daß man einen Lehrer oder auch einen Facharbeiter, der eine Verkäuferin zur Frau hat, zum Mitglied der Oberschicht ernennt, sofern beide Eheleute in Lohn und Brot stehen, wobei man nur bedauern kann, daß es in Deutschland kein Oberhaus gibt, in das diese Leute ihre Repräsentanten schicken können. Zur Unterschicht hingegen gehört diesem epochemachenden Werk zufolge ein Student, der von einem Stipendium lebt und dessen Vater Chefarzt oder Konzernchef ist. Auch die typische alleinerziehende Verkäuferin wird hier eingeordnet. Dagegen wehrt sich nun der bekannte Neuköllner Bürgermeister Buschkowsky, der darauf besteht, daß zur Unterschicht nicht etwa all die zählen, die kein Geld haben, sondern nur jene, die keines haben und es versaufen. Harald Schmidt aber hat, als er in überaus verdienstvoller Weise den Begriff Unterschichtfernsehen zwar nicht erfand, aber doch popularisierte, sich weitgehend an der ganz alten Bedeutung von Unterschicht (s. o.) orientiert: Sie umfaßt etwa zwei Drittel der Bevölkerung.

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