Montag, 31. Oktober 2011

Schienenverkehr

Seit mindestens 30 Jahren dringt ein Jammern und Wehklagen aus der Sphäre der Politik: Der Individualverkehr, vor allem der motorisierte, nehme immer mehr zu und es gelinge nicht, ihn oder die Mobilität, die uns unschätzbare Vorteile bringt und allen außer mir so am Herzen liegt, „auf die Schiene“ zu verlegen.
In der Tat, das ist verwunderlich, weil es vermutlich nicht einen einzigen Politiker gibt, der da nicht mit aller Kraft hinterher wäre, was jeder auch immer wieder in aller Deutlichkeit kundtut. Woher es kommt, daß all die Mühe nichts fruchtet, hat man bisher nicht vollständig aufzuklären können. Vielleicht liegt’s daran, daß die Politiker halt auch der Automobilindustrie gern einen Gefallen tun und Deutschland ohne Opel nicht mehr Deutschland wäre. Oder es liegt am Mehdorn, der während seines äonenlangen Wirkens gewiß der unbeliebteste Deutsche neben dem berüchtigten Bayern-Manager Uli Hoeneß war.
Eine unausweichliche Folge dieser Mißerfolge war, daß sich die Schiene ein Ventil suchte. Was das Wort jenseits der Welt des Eisenbahnwesens und der Unfallmedizin bedeutet, weiß keiner, aber gerade deshalb kann man  es praktisch für alles verwenden, d. h. es bedeutet ziemlich haarscharf das, wozu man früher „etwas“ oder, als dessen Steigerung, „irgendwas“ gesagt hat. Besonders gern wird es in Debatten eingesetzt.
Über 100.000 Treffer ergab bei Google „ganz andere Schiene“ (Juli 2010). Vorwiegend gebrauchen Diskutierer in Internetforen diese Wendung. Der Schulbuchverlag Cornelsen „ist eine ganz andere Schiene“ als irgendwas anderes, und Harry Potter ist „doch ne ganz andere Schiene als Twilight“; „ein wenig Gemüse oder was auch immer vorzukosten (man muss ja auch die Temperatur prüfen...) ist ja wohl auch eine ganz andere Schiene als einen Nucki abzulutschen“, „Relaktieren ist ja auch nochmal eine ganz andere Schiene als allgemein zu wenig Milch“, irgendwas „fällt“ „in ne ganz andere Schiene“, und in Großbritannien „müßtest du“ „eine ganz andere Schiene einschlagen“; „beim Sequel“, was immer das sein mag, macht man genau das bereits jetzt, und „klar ist ne Mail ne ganz andere Schiene als ein Anruf“, und wiederum eine „andere Schiene fährt das Technologie orientierte [sic!] Forschungsunternehmen bubbles & beyond“, und auch „VW ist da eine ganz andere Schiene gefahren“.
Ist's noch auszuhalten? Komm, süßer Tod, komm selge Ruh! (Anonymus, Dresden 1724) möchte man rufen. Wenn man nur wüßte, wo diese Schiene hinführt bzw. hinfährt bzw. hingefahren wird.

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